INHALT
EINE VERÄNDERUNG DES PARADIGMAS
ERSTER TEIL – EUROPAS EIGENART
I. Kapitel: EUROPA UND DIE EUROPÄISCHE EIGENART
II. Kapitel: DIE PHILOSOPHIE DER EUROPÄISCHEN KRISE
III. Kapitel: DIE CHANCE DER EUROPÄISCHEN WIEDERGEBURT
ZWEITER TEIL – DIE EUROPÄISCHE EINIGUNG
I. Kapitel: DIE IDEE DER EUROPÄISCHEN EINIGUNG
II. Kapitel: DIE VORAUSSETZUNGEN DER EUROPÄISCHEN
EINIGUNG
III. Kapitel: DIE MODELLIERUNG DES NEUEN EUROPA
IV. Kapitel: DIE PROZEDUR DER EUROPÄISCHEN EINIGUNG
DRITTER TEIL – WIDERSTÄNDE
I. Kapitel: EUROPA UND AMERIKA
II. Kapiltel: EINE AUSEINANDERSETZUNG DER ZIVILISATIONEN ?
II. Kapitel: DIE ERÖRTERUNG DES NATIONALISMUS
Vorwort
Eine Veränderung des Paradigmas
Wenn wir durch Paradigma das verstehen, was die Mitglieder einer Gemeinschaft teilen, nämlich die Konstellation von Überzeugungen, Werten, Methoden, innerhalb deren sie Fragen stellen und Antworten geben, dann haben wir allen Grund anzunehmen, dass wir in Europa, sei es auch mit unterschiedlicher Intensität, den Verlauf einer Paradigmaänderung erleben. Unsere Lebensfragen und unsere kulturellen Fragestellungen gehen unbemerkt vom nationalen Paradigma, das in der europäischen Kultur einen langen Weg durchlief, in das europäische Paradigma über. Um den Übergang zu verstehen, müssen wir eine kurze Rückschau halten.
Als Reaktion auf die Annahme der französischen Sprache seitens der intellektuellen Elite sowie auf die Einflüsse der Aufklärung, verteidigten die deutschen Romantiker die These, nach der jede Sprache einen Volksgeist einschließt, während die einzelnen Völker spezifische Beiträge zur gemeinsamen Zivilisation der Menschheit leisten. Herder, in seinen berühmten Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, und dann Fichte, in seinen nicht weniger berühmten Reden an die deutsche Nation, vertraten diese These, durch die die Kulturgeschichte in die Kultur der verschiedenen Völker aufgeteilt wurde. Wenn wir den Umstand beachten, dass im Romantismus, wenn es um die Kultur ging, mehr Wert auf das Gefühlsmäßige als auf das Vernunftmäßige, mehr Wert auf den “Geist” als auf den formalisierenden “Verstand“ gelegt wurde, können wir behaupten, dass unter Kultur eines Volkes eine “geistige Macht” verstanden wurde, die in den ursprünglichen Phasen der Geschichte, nämlich in der Folklore, lokalisierbar ist. Im Volksschaffen suchten dann die Ideologen der nationalen Eigentümlichkeit die nationalen Koordinaten, die für die Anhänger des politischen Nationalismus als eine Art normativer Rahmen der nationalen kulturellen Bewegung galten. In den degradierten Varianten dieser Richtung, wurden die folklorisierenden Schriftsteller zu hervorragenden Figuren der nationalen Kulturen, mit deren vormodernen Stadien man sie identifizierte.
In den von der Aufklärung beeinflussten Varianten wurde diese Richtung von dem Glauben getragen, dass das kulturelle Aufblühen der Nationen das Aufblühen der Kultur der Menschheit hervorruft. Giuseppe Mazzini vertritt diesen Glauben, der sich um die Mitte des19. Jh. in Westeuropa verbreitete. Durch den Dienst, den sie ihrer Nation bringen, erfüllen die Menschen ihre Pflicht, sowohl den Mitmenschen als auch Gott zu dienen, während die Nation grundsätzlich den Auftrag hat, zu zivilisieren und die Zivilisation voranzutreiben. Dieser Glauben, wird auch in Osteuropa aufgenommen, nimmt aber eine einfachere Form an, wobei er aus der religiösen Metaphysik, in die er im Abendland eingebettet war, herausgerissen wird. George Călinescu äußert sich in dieser Form noch einmal, wenn er postuliert, dass ein Kunstwerk um so mehr an Universalität gewinnt, je besser es die nationale Eigentümlichkeit ausdrückt.
Das nationale Paradigma stützt sich auf einige Überlegungen, – die Vereinbarkeit aller nationalen Zwecke, die Fähigkeit zu universalisieren, die den nationalen “Zielen” eigen ist, der Relativismus der Wahrheit und der anderen Werte – die sich nicht bestätigt haben. Die heftige Kritik, deren Zielscheiben vor allem der von diesem Paradigma geförderte Paseismus, der Konflikt mit den Modernisierungsbedürfnissen sowie die schon immer vom Nationalismus dargebotene Förderung und Legitimierung der Koruption und der Betrüger waren, unterminierten den Erfolg des nationalen Paradigmas. Mehr noch, “seit dem Augenblick, von dem an die europäischen Staaten an Macht und Selbstbewusstsein gewannen, dehnten sie ihre Grenzen sowohl in Europa als auch in der ganzen Welt durch eine Welle kaiserlicher Expansion aus. Der Nationsstaat selbst begann, sich zu klein zu scheinen, um nationale Ziele zu erfüllen. Schriftsteller und Politiker proklamierten den «zivilisierenden Auftrag», den sie hatten, nämlich das Licht ihrer nationalen Werte in die dunkeln Ecken der Welt zu bringen […] Solche expansionistische Tendenzen schufen wachsende nationale Konflikte, die in einer pseudo-darwinistischen Sprache als ein Kampf fürs Überleben des Angepassteren gedeutet wurden […] In solchen Gefühlen wurde die originelle Inspiration, die hinter dem Prinzip der nationalen Selbstbestimmung steckt, vollständig aufgelöst.”
Westeuropa wurde sich der Lücken des nationalen Paradigmas, von dem es lange Zeit beherrscht gewesen war, bewusst und ging wirtschaftlich, politisch aber auch kulturell zu einem neuen Paradigma über, das die Fragestellungen, auch die durch ihren Ursprung, Umfang und Bedeutung als “national” geprägten Fragen, in eine europäischen Behandlung einfügte. Der nationale Horizont ist im umfassenderen, aber immer weniger abstrakten Horizont unseres Erdteils eingeschlossen. In der Faktualität des Lebens wächst heutzutage das Bewusstsein, ein Bürger Europas zu sein, auf natürliche Art und Weise auf dem Sockel der Zugehörigkeit zu einem der Nationalstaaten und erlangt allmählich den Vorrang in Bezug auf dieselbe.
Auch für Osteuropa ist heute die Aneignung des europäischen Paradigmas eine Bedingung kultureller Relevanz und, vielleicht noch dringender, eine Überlebensbedingung. Nur fälschlicherweise wird angenommen, dass kulturelle Relevanz durch die Wiederbelebung des mehr als hundert Jahre alten nationalen Paradigmas erzielt werden könnte. So gut man es auch zurechtbiegen mag, bleibt es dennoch unzeitgemäss gegenüber den in der heutigen zivilisierten Welt geltenden Erfahrungen, während ein Handeln nach seinen Prinzipien nur hemmend wirkt. Auch in Osteuropa, einschließlich in Rumänien, ist ein Übergang vom nationalen zum europäischen Paradigma eine Frage der Besonnenheit und grundsätzlich der Verantwortung.
Angesichts dieser Paradigmaverschiebung müssen zur Zeit die europäischen Studien in einem gewissen Sinn wieder aufgenommen, in einem anderen Sinn vertieft und endlich in einem dritten Sinn einfach vorangetrieben werden. Natürlich, wenn wir von Studien sprechen, meinen wir deshalb eine besondere Art von Arbeiten, zum Beispiel Kommentare, Artikel, Essays, weil sie die Behandlung einer Frage hinsichtlich ihrer eigenen Lösung auf Grund der umfassenden Durchsicht der Daten und der Literatur der Frage, auf Grund der schon erzielten Lösungen und auf Grund der systematischen Forschung voraussetzt. Wenn wir aber von europäischen Studien sprechen meinen wir solche Arbeiten, die sich mit den Fragen der europäischen Kultur und Zivilisation beschäftigen.
Die europäischen Studien müssen heute, wie erwähnt, wieder aufgenommen werden. Diese Behauptung macht einen Sinn, wenn wir den Umstand in Betracht ziehen, dass eine der Folgen, die das nationale Paradigma hervorrief, die progressive Einengung des Umfangs und natürlich auch des Horizonts der Forschungen und Überlegungen war, die den europäischen Fragen gewidmet wurden. Innerhalb dieses Paradigmas erstellte man Monographierungen der nationalen Kultur, und zwar der als “national” geltenden Philosophie, Literatur, Geschichte, Wissenschaft und Technik, die Daten der europäischen Kultur hervorhoben, denen eine kleinere Bedeutung zukommt. Die Forschungen und Überlegungen, die innerhalb dieses Paradigmas erfolgten, beschränkten sich tendentiell auf “nationale” Themen. Die Einschränkung ging so weit, dass die Komparatistik größtenteils zerstört wurde. Sie blieb einigermaßen lebendig in der Literatur, sehr bescheiden in der Geschichte und in der Philosophie, aber in der Wirtschaft und im Recht zum Beispiel sind die “nationalen” Forschungen von umfassenderen Forschungen losgelöst. Es gibt “Fachleute”, die die Tatsache nicht verhehlen, dass sie Kenntnisse nur hinsichtlich der “nationalen Wirtschaft”, nur hinsichtlich des “nationalen Rechts” besitzen, und den Umstand nicht in Betracht ziehen, dass es im Wissen und noch viel mehr in der Wissenschaft Tatsachen gibt, die vom Leben der Nationen abhängen, dass es aber keine rein “nationale” Lehrsätze gibt. Mehr noch, die Massenmedien teilen diese isolationistischen Anschauungen und verbreiten sie auf großer Ebene, wobei eine Technik gepriesen wird, die vergleichslos die Leistungen des eigenen Vokes darstellt, ohne in irgend einer Weise die Folgen der Leistungen in Betracht zu ziehen. Nach Ansicht der isolationistischen Mentalität ist im Grunde genommen alles europäisch, was in Europa hergestellt wird oder was sich wenigstens in Europa befindet. Als ob jemand durch die einfache Tatsache ein Europäer wird, dass er die Luft aus den vom Atlantik herzu gelegenen Gebieten einatmet! Jedenfalls müssen dort, wo die isolationistische Mentalität stark verankert ist, die europäischen Studien ganz einfach wieder aufgenommen werden, wenn es sie überhaupt jemals gegeben hat.
Diese Studien müssen, wie gesagt, vertieft werden. Diese Behauptung ist sinnvoll, wenn wir den Umstand in Betracht ziehen, dass das nationale Paradigma in den abendländischen Behandlungen der europäischen Fragen nicht mehr uneingeschränkt geteilt wird und praktisch seit Entstehung des Kleinen Europa und dessen Erweiterung im europäischen Paradigma aufging. Es entstehen europäische Studien, die das Erforschen der den nationalen Entitäten gemeinsamen Fragen bedeuten, unter der Voraussetzung, dass dieselben freiwillig abgegeben und in den Kompetenzbereich der gemeinsam festgelegten übernationalen Instanzen fallen. Im letzten Jahrzehnt, und vor allem in den Jahren nach 1989, vermehrte sich die Literatur, die dem Aufbau der Europäischen Union und folglich dem nicht nur als wirtschaftliche sondern auch als administrative und politische Entität gesehenen Westeuropa gewidmet wurde. Sie konzentriert sich auf die politischen, juridischen und institutionellen Fragen, die ausschlaggebend sind bei der als ein erneuter Versuch der Vereinigung des Kontinents empfundenen Gestaltung des neuen Europa mit den Mitteln der Demokratie und auf Grund der Werte der pluralistischen Demokratie. In dieser Hinsicht müssen die europäischen Studien natürlich vertieft werden.
Und schliesslich, sagten wir, müssen die europäischen Studien vorangetrieben werden. Diese Behauptung hat einen Sinn, wenn wir den Umstand in Betracht ziehen, dass das vereinigte Europa nur dann entstehen kann, wenn es sich auf das geographisch und historisch bestehende Europa stützt und wenn es all das einschliesst, was zu seiner Kultur gehört. Des vereinigte Europa setzt Studien voraus, die die Grundsteine erforschen, die den nationalen Entitäten des Kontinents gemeinsam sind, und die die geschichtlichen, sozialen und kulturellen Ereignisse anhand dieser gemeinsamen Grundsteine und im Hinblick auf eine mögliche gemeinsame Zukunft darstellen. Das vereinigte Europa ist das Ergebnis der Förderung des europäischen Paradigmas, so wie das Europa der letzten zwei Jahrhunderte das Ergebnis der Förderung des nationalen Paradigmas war. In diesem Sinne, also als Untersuchung der Gegebenheiten angesichts der Tatsache, dass es einen gemeinsamen europäischen Grundstein und die Hoffnung gibt, diesen wiederzufinden und Europa wieder zu vereinigen, müssen die europäischen Studien vorangetrieben werden.
Konzipiert als eine Erforschung der Fragen, die im europäischen Raum, im Inneren der verschiedenen darin bestehenden nationalen Entitäten oder zwischen denselben auftreten, als eine Überschreitung der Grenzen jeder dieser einzelnen Entitäten innerhalb des europäischen Paradigmas, also unter Beachtung des den verschiedenen nationalen Kulturen des Kontinents anhaftenden gemeinsamen Grundsteins und in der Hoffnung der europäischen Vereinigung, erhalten die europäischen Studien wohl kaum einen so allgemeinen Charakter, dass sie sich von der Erforschung der Tatsachen trennen könnten. Die lokalen, regionalen und interregionalen Studien, sowie die nationalen und internationalen Studien, die um die europäischen Fragen kreisen, müssen eigentlich als europäische Studien angesehen werden. Diese Eigenschaft verdanken sie nicht so sehr dem Inhalt der Fragestellungen, sondern eher dem Paradigma, das sie vertreten und fördern. Die Annahme des europäischen Paradigmas und die Übernahme der europäischen Fragen bedingen die Zugehörigkeit einer gewissen Forschung zu den europäischen Studien.
Wie jede andere Art von Studien (amerikanische Studien, klassische Studien, antike Studien usw.) haben auch die europäischen Studien verschiedene Relevanzstufen. Aus diesem Gesichtspunkt stellen, in der jetzigen Lage, die Studien über die europäische Literatur eine Art europäische Studien dar. An vielen europäischen Universitäten werden die europäischen Studien mit den Studien über die europäische Literatur verwechselt, so wie oftmals die amerikanischen Studien auf die Erforschung der amerikanischen Literatur beschränkt werden. Man kann damit einverstanden sein, dass die Literatur jederzeit ein guter Anzeiger der Mentalitäts- und Verhaltensmuster ist, aber man kann die Tatsache nicht verschweigen, dass ihre Erforschung nicht ausreicht, um eine Gemeinschaft kennenzulernen. Die faktische Realität derselben wird von der erlebten Realität, die die Literatur ausdrückt, nicht aufgenommen. Sie enthält desgleichen Daten, die erst durch die Erforschung des Wissenschafts- und Technologietyps, der Organisierung der Wirtschaft, der Institutionen und der Bildung der politischen Entscheidung, der Legitimierung, der Selbstinterpretationen dargestellt werden können. Deshalb ist die Relevanz des Studiums der Literatur beschränkt.
Aber die europäischen Studien werden oft mit der Erforschung der in Europa stattgefundenen Ereignisse verwechselt. Dabei handelt es sich um die triviale Auffassung der europäischen Studien. Man ist der Meinung, dass schon durch die Behandlung eines Themas, das sich auf das Leben zu einem gewissen Zeitpunkt in Europa bezieht, das betreffende Studium europäisch ist. Es gibt aber Erscheinungen im europäischen Leben, die nichts Europäisches an sich haben, was Herkunft, Stil, Konzepte usw. betrifft. Gar nicht europäisch sind z.B. die charismatische Legitimierung, die mystische Arithmologie, die Medizin der Fakire usw., auch wenn Europa davon nicht verschont blieb. Andererseits gab es in der Vergangenheit Ereignisse im europäischen Leben, die keine bemerkenswerten Folgen für die spätere Geschichte der Ortschaften, Länder, Regionen und Erdteile hatten. Natürlich gibt es kein strenges Kriterium zur Auseinanderhaltung der den europäischen Tatsachen gewidmeten Studien, aber wir können ihre Relevanz unterscheiden. In dieser Hinsicht hat ein Ereignis aus der animistischen Psychologie der Antike eine gewisse Relevanz und eine ganz andere ein Ereignis aus der experimentellen Psychologie unseres Jahrhunderts. Hier wird die Relevanz mit Hinsicht auf die Auswirkungen eines Ereignisses aus einer Serie, die das europäische Spezifikum ausdrückt, beurteilt. Wenn wir dieses Kriterium verallgemeinern, dann können wir mit gutem Grund behaupten, dass die in der modernen Epoche begonnenen Serien (auf wissenschaftlichem, technischem, wirtschaftlichem, juridischem, politischem Gebiet usw.) eine größere Relevanz haben. Die europäischen Studien sind, im Grunde genommen, Studien des modernen Europa.
Wir wissen aber, dass in der moderneneuropäischen Geschichte zu einem gewissen Zeitpunkt noch eine Wendung stattfand: die europäische Organisierung nach dem Prinzip der Trennung der nationalen Entitäten geriet in eine Krise, während andererseits eine neue Organisierung, die auf dem Prinzip der europäischen Einheit beruhte, eine Frage und unmittelbare praktische Beschäftigung wurde. Dadurch, dass sich die europäischen Studien auf das moderne Europa konzentrieren, haben sie die Tendenz, auf diesem Hintergrund, Studien der europäischen Vereinigung zu werden. Das geschieht in einer ersten Phase aus thematischer Hinsicht. Die wichtigste Literatur auf dem Gebiet der europäischen Studien ist jetzt die Literatur der Errichtung der Europäischen Union. Aber die europäischen Studien werden zu Studien der europäischen Vereinigung auch aus einem anderen Gesichtspunkt: jenem der Perspektive der Behandlung. Es gibt in den geschichtlichen Behandlungen ein konsekriertes Prinzip, wonach die entwickelteren Formen es ermöglichen, die einfacheren, anfänglichen Formen zu verstehen. Hegel hat es in seiner Philosophie der Geschichte angewandt, wo er die Weltgeschichte zu verstehen versuchte, indem er von der durch die Reform eröffneten Perspektive der jedem Menschen bewusst gewordenen Freiheit ausging. Befreit vom Finalismus bleibt das Prinzip kräfrig und bietet einen ausgezeichneten Anhaltspunkt, um eine Geschichte, die wenigstens hinsichtlich der Menge der Ereignisse verwirrend ist, verständlich nachzuvollziehen. Folglich erhalten die europäischen Studien ihre europäische Eigenschaft mit Sicherheit dann, wenn sie von der Perspektive der europäischen Vereinigung ausgehen, auch wenn ihre Themen und ihre faktische Grundlage dem tatsächlichen, bewusst ausgeführten Prozess des Aufbaus der Europäischen Union zeitlich erheblich vorausgehen.
Die europäischen Studien sind durch ihr Wesen pluridisziplinär, weil sie darauf zielen, eine Realität, die sich von einem einzigen Fach nicht ausschöpfend darstellen lässt, zu beschreiben, zu konzeptualisieren, zu erklären und zu verstehen. Ausserdem fordert im allgemeinen die steigende Komplexität des Lebens in der späten Modernität die traditionellen, monodisziplinären europäischen Studien heraus und es bleibt weiterhin wesentlich, dass die fachliche Trennung des Wissens beibehalten und sogar verschärft wird. Das Zurückkommen hinter die fachliche Trennung wäre genau so katastrophal wie das Zurückkommen hinter die Trennung der Tätigkeiten. Die späte Modernität stellt uns oft vor eine so scharfe fachliche Spezialisierung, dass die Gefahr besteht, den Gegenstand nicht mehr zu verstehen, denn tatsächlich wird nach zu häufigen Teilungen, auf abstrakter Ebene, nicht mehr damit umgegangen. Aber wir können mit der späten Modernität nicht so zurechtkommen, indem wir hinter sie zu stehen kommen, denn dann müssten wir den unmöglichen Preis des Elementarismus bezahlen. Die Lösung ist viel eher ein gesunder Pluridisziplinarismus, der sich auf eine ständige interdisziplinäre Kommunikation stützt. Nicht die Wiedergeburt der vormodernen Elementarismen sondern erst eine tiefe Philosophie der Kommunikation kann dem späten Modernismus standhalten, denn nur sie befindet sich auf derselben Komplexitätsstufe.
Die pluridisziplinäre Forschung ist hinfällig und löst sich in isolierte Behandlungen auf, die nur nominell zusammengefügt sind, wenn sie nicht von einem konzeptuellen Rahmen gestützt wird, der seinerseits die Fragestellungen erlaubt. Denn mit den Fragen beginnt die Forschung und von der Qualität der Fragen hängt das Kaliber der Forschungen ab. Die Fragen selbst haben aber einen konzeptuellen Ausgangspunkt. Dieser Ausgangspunkt kann verschiedene Stufen der Verallgemeinerung haben und bezieht sich oft auf die Fächer des spezialiseirten Wissens. Er ist um so spezifischer, je fortgeschrittener sich ein Fach auf dem Weg zu seiner Reife befindet. Wenn es einen fachlichen Rahmen gibt, wird er natürlich von den Fragen beachtet. Anders gesagt, es wird ein Schritt zurück gemacht, wenn eine Frage, die genau und fachgerecht gestellt werden kann, unversehens ins Register der allgemeinen Fragen gelangt. Noch einfacher gesagt, man kann eine allgemeine Frage stellen und man kann demnach praktisch über alles philosophieren, aber wenn es eine fachliche Perspektive gibt, ist es immer kontraproduktiv, diese zugunsten einer philosophischen Behandlung zu verlassen. Es kann keine räumliche Unterscheidung der einzelnen Fächer einerseits und der integrierenden Disziplin, also der Philosophie, andererseits gemacht werden, aber es kann gefordert werden, dass eine fachliche Behandlung nicht als Philosophie angesehen wird und, desgleichen, dass die fachlichen Behandlungen, wenn sie möglich sind, nicht mit einer philosophischen Behandlung ersetzt werden.
Wenn es bei der Lösung einer Frage, die innerhalb eines Faches gestellt wird, Alternativen gibt oder wenn die Behandlungen, seien sie auch fachbezogen, nicht nur existierende Tatsachen sondern auch Projektionen der virtuellen Realität einbeziehen – wenigstens in diesen Situationen also – ist die philosophische Erörterung unvermeidlich und unerlässlich. Sogar formalisierte Analysen schließen philosophische Überlegungen ein, die sie oft verheimlichen. Die europäischen Studien begegnen solchen Situationen: Alternativen zur Lösung wesentlicher Fragen innerhalb der Fächer; die Einbeziehung der virtuellen Realität Europas. Vor allem im letzteren Falle ist eine philosophische Behandlung unerlässlich. Um es ganz genau zu sagen, handelt es sich hier um eine Philosophie der Vereinigung Europas, als ein systematisches Nachdenken über die philosophischen Fragen, denen man während des europäischen Vereinigungsprozesses begegnet, mit dem Zweck, den konzeptuellen Rahmen der europäischen Studien abzugrenzen, auch wenn diese fachmäßig spezialisiert sind.
Die Philosophie hat in diesem Jahrhundert größere Fortschritte gemacht als in ihrer ganzen vorausgegangenen Geschichte. Aber wenigstens in Osteuropa, einschließlich in unserem Land, besteht die Gefahr, dass sie in der Sphäre der Kultur wieder an den Rand gedrängt wird. Diese Tatsache hat, meine ich, dem Fach innewohnende Erklärungen: Paseismus, geäußert in der Zuwendung vieler Philosophen zur Vergangenheit zusammen mit der Wiederaufnahme von Traditionen, die den heutigen Realitäten gegenüber blind und jedenfalls unfähig sind, sie zu verstehen; die Verwechslung der Philosophie mit kleinen künstlerischen oder bestenfalls essayistischen Übungen; die Ersetzung der fachmäßigen Fragestellungen, auch dann wenn sie möglich sind, mit philosophischen Fragen, auf die man eigentlich schon seit langer Zeit eine Antwort gegeben hat; die unerlaubte Ersetzung der Betrachtungen über die Realität mit dem Ausdrücken der Realitätserlebnisse. Die Tatsache hat aber auch Erklärungen, die ausserhalb das Faches liegen und die, im Grunde genommen, im Zusammenhang stehen mit der Verbreitung der falschen Meinung, sogar unter den Fachleuten, nach der die Philosophie nicht an dem teilnehmen soll, was sie als Fachleute machen, sondern erst in dem Augenblick einsetzen kann, wenn sie ihre Rolle abgeschlossen haben. Aus dieser Marginalisierung kann die Philosophie nicht ohne Überdenkung ihrer eigenen Lage herauskommen. Das bedeutet in erster Reihe die Suche nach einer neuen Stellung im Wissen, so dass der Philosophie die Rolle beibehalten bleibt, die menschliche Erfahrung der Welt zu integrieren, ohne aber den Anspruch auf eine Letztbegründung zu erheben; die Daten der Wissenschaft zu übernehmen, um den Sinn und die Bedingungen ihrer Möglichkeiten zu ergründen, aber nicht um sie unbedingt zu verallgemeinern.
Innerhalb der erwähnten Koordinaten der europäischen Studien ist der Band „Die Philosophie der europäischen Vereinigung“ ein Versuch, für diese Studien einen konzeptuellen, philosophischen Rahmen festzulegen, der je nach ihrem Stadium auf die grundlegenden Aspekte ausgerichtet ist: die Eigenart Europas und die europäische Krise; die europäische Vereinigung; die philosophischen Grundfragen der europäischen Vereinigung und der ihr entgegengebrachte Widerstand. Indem sie fachbezogene Behandlungen (Wirtschaft, politische Wissenschaften, Soziologie, Geschichte usw.) verwendet, ist sie bestrebt, die philosophische Seite hervorzuheben und zu unterstützen, wobei sie sich fern hält, sowohl von der positivistischen Darstellung der Tatsachen als auch von dem üblichen Abgleiten in Verallgemeinerungen ohne genügend Grund, wozu die in der öffentlichen Auseinandersetzung enthaltenen großzügigen Themen verleiten können.
Um den Prozess zu benennen, der zur Bildung der Europäischen Gemeinschaft und nach 1993, durch die Annahme und Anwendung des Maastrichter Vertrages, der Europäischen Union führte, benützt man gewöhnlich den Ausdruck europäische Integration. Im vorliegenden Band verwenden wir einen einigermassen radikaleren Ausdruck, nämlich europäische Einigung. Läuft aber dieser Radikalismus nicht etwa Gefahr, der Ausdruck eines frommen Wunsches zu bleiben, dem die Wirklichkeit auf Schritt und Tritt widerspricht? Wir möchten auf diesen terminologischen Unterschied und auf die Gründe, die für die Annahme des Ausdrucks europäische Einigung sprechen, näher eingehen.
Ich nehme als Anhaltspunkt den von William Wallace herausgegebenen Band The Dynamics of European Integration (1990), der sich, wie es der Titel ankündigt, eher mit dem Prozess befasst, dessen Zeitgenossen (und Teilnehmer, wenngleich jetzt bloss potentielle, aber immerhin Teilnehmer) wir sind, als mit dem zur Zeit ersichtlichen Ergebnis des Prozesses. Hier verwendet der Herausgeber den Ausdruck europäische Integration, denkt aber vorsätzlich an die europäische Einigung. Er bemerkt, mit gutem Recht, die Inflation von Theorien der Integration, die in den 50-er und 60-er Jahren auftauchten und die von einer Athmosphäre der Enttäuschung hinsichtlich der faktischen Ergebnisse der Programme begleitet waren. In den 80-er Jahren kurbelten die westeuropäischen Regierungen und die Europäische Kommission den Prozess wieder an. Aber von Zeit zu Zeit und in Verbindung mit Zusammenhängen wie Wahlen, Volksentscheidungen, Umfragen usw. breitet sich eine malaise-Stimmung im öffentlichen Leben, unter den Intellektuellen und sogar in der alltäglichen Meinung aus. Jedenfalls – und dies ist die Bemerkung, die ich von diesen Beobachtungen ausgehend machen möchte – müssen wir uns nicht nur auf Schritte nach vorn, sondern auch auf Rückgänge oder wenigstens auf Stagnationen des Formungsprozesses des neuen Europa gefasst machen. Dementsprechend kann die Stimmung abwechselnd Kombinationen von Euforie und Pessimismus aufweisen, während die Glaubwürdigkeit zwischen der gemässigten Variante der Integration und der radikaleren Aussicht der Einigung schwankt.
Jenseits der Stimmung muss aber der Umstand hervorgehoben werden, dass der Ausdruck europäische Integration besser das ausdrückt, was bisher in Westeuropa geschehen ist: eine derartige Verkoppellung der Wirtschaften und Institutionen (von den juridischen über die erzieherischen bis zu den kulturellen), dass die Europäische Gemeinschaft unter möglichst vielen Gesichtspunkten als ein Ganzes funktionierte. Hier hat der Audruck Integration eine ähnliche Bedeutung wie in der Alltagssprache, wobei man darunter die Bildung einer wachsenden gegenseitigen Abhängigkeit zwischen den der Gemeinschaft angehörenden Ländern versteht, so dass sie allmählich Teile eines Ganzen werden.
Die Integration hat diese zusätzliche Bedeutung, die von der Erfahrung herrührt, dass man durch funktionelles Verbinden verschiedener Teile ein einheitliches Ganzes erhält. Diese Teile sind nach Funktionalitätskriterien miteinander verbunden. Offensichtlich ist die europäische Integration nach der Unterschreibung der Römischen Verträge von den auf der westeuropäischen Bühne handelnden Ländern gedacht und gefördert worden, und zwar in folgendem Sinne: the creation and maintenance of intense and diversified patterns of interaction among previously autonomous units. These patterns may be partly economic in character; partly social, partly political: definitions of political integration allimply accompanying high leverls of economic and social integration.
Die Theorien der Integration machen seit kurzer Zeit einen Unterschied zwischen formeller Integration und informeller Integration im Falle des von den Römischen Verträgen in die Wege geleiteten europäischen Prozesses. Unter formeller Integration verstehen sie die Änderungen der juridischen und sonstigen Regelungen hinsichtlich der gegenseitigen Kompatibilisierung und Erreichung einer wirksamen Funktionalität der Gemeinschaft. Die informelle Integration hingegen betrifft die Dynamik der Produktion und des marktgerechten Tausches der Kommunikationserzeugnisse und –systeme. Während die erste direkt von politischen Initiativen abhängt, entwickelt sich die letzte durch die Mechanismen der gegenwärtigen europäischen Zivilisation.
Der Ausdruck europäische Integration wurde bisher begründet verwendet, um den gemeinschaftlichen Prozess zu benennen, durch den offensichtlich mehr als eine Zusammenfügung der westeuropäischen Länder in ein umfassenderes Ganzes aber weniger als eine europäische Vereinigung erzielt wurde. Unter vielen Gesichtspunkten, wirtschaftlicher, sozialer, politischer und kultureller Natur, sind diese Länder unterschiedlich geblieben und bleiben auch weiterhin so. Wenn wir aber von Integration reden, dann muss hinzugefügt werden, dass es sich bisher vor allem um eine wirtschaftliche Integration handelte und dass die Integration anderer Bereiche der westeuropäischen Länder erst angefangen hat.
Dennoch haben wir im vorliegenden Band dem Ausdruck europäische Einigung den Vorzug gegeben. Der Entschluss für diese Wahl wurde gefällt, nachdem viele Gründe in Betracht gezogen wurden. Der erste Grund bezieht sich auf die Tatsache, dass der in den Römischen Verträgen ausgesprochene Zweck des europäischen Prozesses auf ein Ziel ausgerichtet ist, das sich jenseits der wirtschaftlichen und allgemeinen Integration befindet, dieses politische Ziel also darin besteht, to establish the foundations of an ever closer union among the European peoples, so dass dadurch substitute for age-old rivalries the merging of their essential interests; community, the basis for a broader and deeper community among peoples long divided by bloody conflicts; and to lay the foundations for institutions which will give direction to a destiny henceforward shared. Mit Bezug auf diesen Zweck muss der konzeptuelle Rahmen der Behandlung des europäischen Prozesses festgelegt und nur so können die Ergebnisse in jedem Augenblick bewertet werden. Der zweite Grund: der rings um den Ausdruck europäische Integration organisierte konzeptuelle Rahmen war zufriedenstellend, um den Prozess der Bildung der Europäischen Gemeinschaft in Angriff zu nehmen, hält aber dem Prozess nicht mehr stand, der seit dem Maastrichter Abkommen in Gang gesetzt wurde und der zur Bildung der Europäischen Union führt. Wir befinden uns, nicht nur durch die angekündigten Projekte sondern auch durch das bisher Geleistete, auf dem Weg zur europäischen Einigung. Der dritte Grund ergibt sich schliesslich aus der Tatsache, dass wir einen im Gang befindlichen Prozess so behandeln können, indem wir uns auf unterschiedlichen zeitlichen Ebenen bewegen. Eine philosophische Behandlung bleibt sich treu, wenn sie einen Prozess aus dem entfernten Gesichtspunkt seines Endzieles betrachtet.
Vorliegendes Buch ist ein Versuch, die philosophischen Fragen zu klären, die jene Handlungen beeinflussen, welche auf die jetzt stattfindende europäische Einigung ausgerichtet sind. Es wurde in einer ersten Fassung aus der dringenden Notwendigkeit heraus geschrieben, den Studenten der 1994 an der Klausenburger Universität gegründeten ersten Fakultät für Europäische Studien aus Rumänien eine unmittelbare Grundlage für ihre Vorbereitung zu sichern. Die Form der ursprünglichen Ausgabe (1995) ist bis jetzt beibehalten worden, wobei nur einige Hinweise hinzukamen, welche die Verbindung zwischen den Kapiteln verdeutlichen sollten, und einige neue Kapitel, in denen der Versuch unternommen wurde, auf Fragen hinsichtlich der politischen Form des neuen Europa und der Grundlage seiner Moralität zu antworten. Die zweite Ausgabe des Buches (1997) berücksichtigte die Erfahrung, die im Laufe der mit den Studenten der erwähnten Fakultät vorgenommenen Erörterungen der philosophischen Themen der europäischen Vereinigung gemacht wurde, wobei besagte Ausgabe eben diesen Studenten zum Zeichen ihrer Wertschätzung und Dankbarkeit meinerseits und zu ihrer Ermutigung gewidmet wurde. Die Dokumentation für dieses Buch erfolgte an der Westphälischen Wilhelms Universität aus Münster (1993) mit Unterstützung des DAAD. Die in Washington D.C. verbrachte Vorbereitungszeit als fellow des National Endowment for Democracy (1996) war ein sehr guter Anlass, um über dieselben Fragen nachzudenken und dabei den Standkunkt der Amerikaner hinsichtlich Europas und die Tatsache zu berücksichtigen, dass Nordamerika der fruchtbarste Gesprächspartner bei den unseren Kontinent betreffenden Erörterungen ist. Schon früher, anlässlich einer Vorbereitungszeit (1991) als fellow an dem Woodrow Wilson Center aus der Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Amerika, hatte ich die Gelegenheit, den die amerikanische Kultur kennzeichnenden Standpunkt kennenzulernen, wobei ich immer wieder feststellen konnte, dass die amerikanische Kultur, obwohl am Anfang eine „Tochter“ der europäischen Kultur, einen derartigen Umfang an Leistungen und eine derartige Tiefsinnigkeit der Horizonte erreicht hat, dass sie heute selbst jene Grundlage darstellt, von der man ausgehen kann, um die europäische Kultur grundlegend und fruchtbar verstehen zu können. Ich möchte hiermit meinen aufrichtigen Dank an alle Institutionen richten, die meine Dokumentierungsarbeit gefördert haben.
Vorliegender Übersetzung liegt die dritte Ausgabe der Philosophie der europäischen Einigung zu Grunde. Darin wurden nur leichte Änderungen am Text der zweiten Ausgabe, der beibehalten wurde, vorgenommen. Inzwischen ist die Literatur der Frage angestiegen aber die in der zweiten Ausgabe getroffenen Entscheidungen blieben gültig und wurden beibehalten.
Andrei Marga
Cluj, 15. April 2001